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„Mir ist immer, als hätte ich einen schlimmen Traum und müßte bald aufwachen.“

__Zeitzeugenbericht aus dem Archiv der "„Interessengemeinschaft 13. Februar 1945“ e.V.":http://www.dresden-1945.de/verein/index.html. Zitiert nach: Oliver Reinhard/Matthias Neutzner/Wolfgang Hesse: Das rote Leuchten. Dresden und der Bombenkrieg. Dresden 2005. S. 318/319.__

Briefpapier, A4, weiß, maschinengeschrieben

Dölzschen, den 5.4.45

Liebe Helga!

Heute erhielt ich Deinen Brief vom 31.3. Gleichzeitig trudelte schön langsam Dein Brief vom 23.2., den Du nach der Stephanienstraße gerichtet hattest, bei mir ein. Ich bin sehr froh, nun endlich ein Lebenszeichen von Dir zu haben. Gestern erhielt ich die Karte von Frl. Benkert vom 14.3. Die Postverbindung ist noch immer ganz miserable. Ja, liebe Helga, ich habe kaum geglaubt, daß Du und Deine Angehörigen aus Eurem Hause heil herausgekommen seid. Ich war gleich kurz nach dem Angriff dort. Es sah ja grauenhaft aus. – Auch uns hat der zweite Angriff den Rest gegeben. Retten konnten wir so gut wie nichts, nur was wir auf dem Leibe hatten und die Papiere. Meine Tasche, die ich immer mit im Büro hatte, habe ich großes Mondkalb bei der Flucht vor den Flammen in Dietels Schlafzimmer geschmissen. Warum, weiß ich heute noch nicht. Darein hatte ich noch zuletzt mein gutes blaues Kleid und meinen gestrickten Rock gestopft. Später hat mein Vater noch aus unserem Keller einige Porzellanteller und etwa 4 Zentner Kohle gerettet. Das ist alles. Beim ersten Angriff brannte unser Nebenhaus. Wir haben geschuftet wie die Ochsen, damit das Feuer nicht übergreift. Unsere sämtlichen Sachen, sogar die Möbel, haben wir mit Hilfe der Ausländer ins Erdgeschoß geschafft. Darunter auch mein heißgeliebtes Schifferklavier und die Bretteln. Als wir uns schon freuten, unser Haus gerettet zu haben, kam der zweite Angriff. Ein Regen von Brandbomben fiel auf unser Haus und dann auch noch Sprengbomben. Das war ein Gefühl, als der Boden unter uns schwankte. Der Keller hat aber gehalten. Nur kamen überall, auch zu den Mauerdurchbrüchen, die Flammen herein. Es entstand dann eine ziemliche Panik, und wir fanden den Ausweg durch Dietels Schlafzimmer. Übrigens, nach dem ersten Angriff kam Lotti von Dölzschen nach Hause und hat dann den furchtbaren zweiten Angriff bei uns mit erlebt. Bei all dem Durcheinander haben wir dann noch unsere Eltern verloren. Das war das Schlimmste von der ganzen Schreckensnacht. Wir sind zuerst aus dem Keller heraus, und ich wußte genau, daß unsere Eltern noch drin waren. Wenn Lotti nicht dagewesen wäre, ich glaube, dann wäre ich auch umgekommen. Sie hat mich vielleicht sechsmal zurückholen müssen aus dem brennenden Haus. Ich wollte immer wieder unsere Eltern retten. Wir haben uns dann mühsam einen Weg nach dem Großen Garten gesucht und sind dann nach langem Hin und Her an der Gasanstalt in Reick herausgekommen. Wir waren ja beide halb blind, Schutzbrillen und Gasmasken waren verlorengegangen. In Reick fanden wir eine Bude, wo das Dach fast abgerissen war, mit Bänken und Tischen drin. Dort haben wir mit 3 Bahnarbeitern die Nacht verbracht, immer vor uns hin weinend. Einer hatte einen Apfel einstecken, der uns sehr half, den schlimmen Durst zu stillen. Am frühen Morgen kam eine Frau und brachte uns einen Teller warme Suppe. Am Mittwoch kam dann noch ein Angriff, und am Mittag sind wir dann in Dölzschen gelandet. Als unsere Eltern bis zum Abend nicht eingetroffen waren, glaubten wir nicht mehr, daß sie aus den Flammen herausgekommen sind. Am Donnerstag kamen sie endlich, vollkommen erschöpft und krank hier an. Sie haben Unbeschreibliches durchgemacht. Daß sie uns jemals lebend wiederfinden, haben auch sie nicht gedacht. Sie sind am nächsten Tag noch einmal in die Stephanienstr. gegangen und haben die dort umherliegenden Leichen durchgesehen, ob wir dabei sind. […]

In der ganzen Zeit nach dem Angriff habe ich fast weiter nichts gemacht als dauernd herumgelaufen. Meine Mutter hatte in dieser Nacht gerade neue Schuhe angezogen und sich lauter Blasen geholt. Sie konnte wochenlang überhaupt keinen Schuh anziehen. Mein Vater hatte eine schwere Rauchvergiftung und Lungenentzündung. Er wird wohl in seinem Leben nie mehr arbeiten können. Es ist ein Jammer! […]

In meiner Familie hat der Terrorangriff grausame Lücken gerissen. 11 Tote haben wir zu beklagen, darunter auch meine beiden Großmütter. An der Frauenkirche ist meine Tante, mein Onkel und 4 Kinder umgekommen. Man darf gar nicht darüber nachdenken. Mir ist immer, als hätte ich einen schlimmen Traum und müßte bald aufwachen.
Übrigens, Trudel habe ich auch ausfindig gemacht. Sie ist bei ihrer Schwester in Gittersee und hat weiter nichts retten können als ihr Kind.

Hoffentlich habt Ihr in der Zwischenzeit Post von Deinem Vater bekommen. Man hört ja jetzt allgemein, daß von der Ostfront keine Post mehr durchkommt. Dr. E. hat gerade an dem Dienstag die Nachricht bekommen, daß sein jüngster Sohn vermißt ist. Von meinem „Mann“ habe ich wie durch ein Wunder bisher immer noch Post bekommen. Ich habe ihm eine Eilnachrichtenkarte geschickt, die ihn, obwohl er inzwischen längst eine andere Feldpost-Nr. bekommen hatte, noch erreicht hat. Jetzt erhalte ich so langsam alle Briefe, die er nach der Stephanienstraße gerichtet hatte, nachgesandt. Er hatte 5 Verwundungen und deshalb viel Zeit zum Schreiben. Nach seinen letzten Briefen sitzt er am nördlichsten Zipfel des Plattensees. Übrigens, Dein Karl-Heinz ist zu einer anderen Einheit gekommen. Erich schreibt wörtlich: „Er war im Einsatz eine Niete und deshalb gar nicht wert, mit einem Mädel in Verbindung zu treten.“

So, liebe Helga, nun hast Du einen langen Brief und weißt so einigermaßen über alles Bescheid.

Ich wünsche Dir recht baldige gute Nachricht von Deinem Vati und auch von Toska und grüße Dich und die Deinen herzlichst